Kritik zu Yonathan Avishai Trio

Musik ist kein reines Schallphänomen

Mit dem Yonathan Avishai Trio startet das kulturelle Leben im Roten Saal der Stadt Braunschweig

Selbstverständlich! Man kann Musik schön bequem von seinem Sofa aus anhören. Oder sich Musik-DVD’s und Live-Streams – durchaus liegend – reinziehen. Hat alles seine Zeit, insbesondere seine Corona bedingte Zeit. Aber – mal ehrlich: es geht doch nichts über Echtzeit-Mucke am richtigen Ort, mit den richtigen Leuten und mit leibhaftigen Musikern.

Vor neunzehn Monaten spielte das letzte Mal eine renommierte Jazzband im Roten Saal des Schlosses, dem kulturellen Herz der Stadt Braunschweigs. Dann von Hundert auf null! Schluss. Kulturelle Wüste und die peinigende Erfahrung, dass Konserve aller Art nur notdürftiger Ersatz ist fürs wirkliche Leben. Musik ist ein Schall-Phänomen, aber eben nicht nur. Die Musiker brauchen Resonanz und Stimulanz, das Publikum optische und unmittelbar personale Eindrücke.

Nun also Neustart für Jazz Braunschweig und zugleich für den Roten Saal. Natürlich mit 3G-Hygiene, was bedeutet, dass nur knapp fünfzig Menschen Einlass finden. Das schmälert die Einnahmen, manchem Veranstalter bricht’s das finanzielle Genick. An diesem Abend aber gibt es eine gelungene Gegensteuerung. Die Band erklärte sich bereit, zwei jeweils leicht verkürzte Konzerte statt des üblichen einen zu spielen. Was gut angenommen wurde.

Die Band, das ist ein international renommiertes Klavier-Trio mit dem in Frankreich lebenden israelischen Pianisten Yonathan Avishai im Zentrum. Keine Avantgarde-Truppe, kein Trash-Jazz. Vielmehr melodie- und klangbezogen orientierte Kompositionen, die den gegenwärtigen aufgeregten Zeiten nicht entsprechen wollen. Keine wild-theatralischen Ausbrüche, aber auch nicht ein kontrastarmes Dahinplätschern. Die Musik lebte vielmehr von einem Sich-Annähern an und Transzendieren von Jazzgenres, aber auch von einem unterschwelligen Bezug zur Historie des Klaviertrios. Und so geschah es immer wieder, dass nach einem tastenden Intro und der Entfaltung eines Themas man sich plötzlich in einem Blues-, Boogie-, einem Swing- oder Gospelkontext wiederfand. Rhythmische und harmonische Veränderungen eröffneten neue, abstraktere Horizonte. Es konnte aber durchaus auch passieren, dass man sich in lyrisch-romantischer Liedtradition wiederfand. Dabei zeigte sich die hohe Qualität des Trios insbesondere in seinem feinen, ungemein transparenten Zusammenspiel. Da gab es kein Sich-durchsetzen-Wollen. Impulse wurden aufgegriffen und stimmig interpretiert, alle Artikulationsebenen genutzt, aber immer mit einer gewissen Zurückhaltung und Balance.

Das Trio trägt den Namen des Pianisten, was vermuten lässt, dass er, wie man es vom Keith-Jarrett-Trio kennt, die Fäden zieht. Klar, er ist der Chef, er zählt an, die Kompositionen sind vorwiegend von ihm, die Strukturen legt er fest. Aber innerhalb dieses Rahmens gab es feine, sich befreiende Bass-Soli von Yoni Zelnik, besonders eindrucksvoll in der Bearbeitung des Cole Porter Songs „So in love“. Auch der Schlagzeuger Donald Kontomanou war nicht schlichter „timekeeper“, sondern oft ein feiner Klangverzierer, was alles im besten Sinne an das letzte Bill Evans Trio erinnerte. Freilich, wer sich wünschte, dass da „endlich mal die Post abgeht“, hoffte vergeblich. Selbst bei einem Titel wie „Musicians without Boundaries“ entwickelte sich kein Free-Chaos. Grenzenlosigkeit zeigt sich eben auf sehr unterschiedliche Weise. Vielleicht gerade darin: sich von der Covidunruhe, dem Wahlgetöse, der permanenten medialen Erregtheit eine Zeitlang zu befreien. Das ermöglichte das Yonathan-Avishal-Trio an diesem Abend in beeindruckender Weise.

Klaus Gohlke