Interview mit Daniel Erdmann

Ludwig XIV., de Gaulle und Napoléon jazzen

Das Trio „Das Kapital“ des Ex-Braunschweiger Saxofonisten Daniel Erdmann präsentiert seine neue CD „Vive La France!“

„Das Kapital“ nennt sich das renommierte Jazz-Trio um den Ex-Braunschweiger Saxofonisten Daniel Erdmann. „Das Kapital“? Welches? Marxens Opus Magnum oder was? Das Trio stellt demnächst im Braunschweiger LOT seine neue Produktion vor. Titel: „Vive la France!“. Weshalb? Was steckt dahinter? Klaus Gohlke beseitigt im Gespräch mit Erdmann alle Unklarheiten.

Die neue CD von „Das Kapital“ heißt „Vive la France!“ Dabei posiert das Trio auf dem Cover-Foto verkleidet als Ludwig XIV., Napoléon und Charles de Gaulle. Ist das eine politische Aussage?

Wir sind drei europäische Musiker, die in Frankreich leben, es ist eine Hommage an die Musik unseres Heimatlandes. Wir verpacken das ganze aber auf unsere Weise, etwas provokant, sicher aber eher lustig gemeint.

Die Musik scheint ein Gang durch die französische Musikgeschichte zu sein, vom 16.Jh.bis zur Gegenwart. Warum diese Art Wanderung durch die Jahrhunderte? Und – wie sind Sie auf diese Auswahl gekommen?

Wir wollten wirklich die volle Bandbreite zeigen und ein abwechslungsreiches Programm präsentieren. Jeder von uns hat Vorschläge eingebracht, und wir haben dann die Stücke aufgenommen, mit denen alle einverstanden waren.

Sie spielen ja Instrumentalmusik. Bei den Chanson-und Pop-Referenzen fehlt somit der Text. Geht damit nicht Entscheidendes bei den Interpretationen verloren?

Ich finde, dass der Sinn der Texte oft sehr stark musikalisch umgesetzt ist, und wir haben versucht, das noch mehr herauszuarbeiten.

„Das Kapital“ ist ein Jazz-Trio. Wie kommt der Jazz in diese Kompositionen?

Wir spielen eigentlich die Melodien ziemlich genau wie im Original, allerdings mit den Stilmitteln des Jazz. Aber wir versuchen, dem Original gerecht zu werden. Das Trio hat auch eine eigene Art zu spielen entwickelt, etwas zwischen den Stilen, eine akustische Musik ohne Grenzen.

Können Sie kurz die französische Jazzszene charakterisieren? Gibt es signifikante Unterschiede zu Deutschland?

Meiner Meinung nach gibt es in Frankreich verschiedene Jazzszenen, die sich jetzt langsam anfangen zu mischen. Ich denke, das Leben als Musiker ist in Frankreich etwas anders, weil das System anders funktioniert. Kurz gesagt, ist man dort generell als Künstler mehr in staatliche Systeme eingebunden.

Geboren sind Sie in Wolfsburg. Haben Sie noch einen Bezug zu dieser Region?

Ich bin ja in Braunschweig aufgewachsen. Ich habe hier keine Familie mehr, aber kürzlich war ich für einen Tag zu Besuch in der Stadt und habe Orte der Vergangenheit besucht. Das war sehr schön, denn mir ist da aufgefallen, dass ich in einer tollen Stadt aufgewachsen bin. Der Tag begann im Heidberg, wo ich in der Raabeschule war, und endete bei Bolle in der Bassgeige. Also freue ich mich umso mehr auf das Konzert in der alten Heimat!

Klaus Gohlke

Das Kapital

LOT-Theater, Kaffeetwete 4a, 38100 Braunschweig

*** Konzertbeginn im LOT-Theater ist künftig bereits um 19:00 Uhr ***

Daniel Erdmann, Tenorsaxophon
Hasse Poulsen, Gitarre
Edward Perraud, Schlagzeug

Beitragsbild„Das Kapital“ präsentiert bei uns die Musik seines aktuellen Projekts „Vive la France“- und das sehr eigenwillig: Wann haben Sie zum letzten Mal „La mer“ oder „Ne me quitte pas“ gehört? Patrick Hernandez’ Disco-Knaller „Born To Be Alive“ oder „Comme d’habitude“, die französische Vorlage zu Sinatras Ego-Hymne „My Way“? Die erste „Gymnopedie“ von Impressionismus-Ikone Satie oder Stücke aus Renaissance und Barock, etwa von Lully? Egal, wie lange es her sein mag, so wie hier waren diese „Hits“ aus rund 430 Jahren Musikgeschichte noch nie zu erleben. Das Kapital, weithin gefeiert als versiertes Jazztrio mit charakteristischem Ausdruck, transzendiert die höchst unterschiedlichen Vorlagen in seinen eigenen Kosmos. Mit hintersinnigem Witz schneidert die Band den Stücken ein hinreißend neues Klanggewand, das ursprüngliche Genrezugehörigkeiten vergessen lässt oder gar absichtsvoll konterkariert. Etwa wenn das ehemals hedonistische „Born To Be Alive“ unvermittelt Blues-Züge annimmt oder „Vertigo“, 1746 von Joseph-Nicolas-Pancrace Royer geschrieben, plötzlich zu rattern beginnt wie eine Punkjazz-Parodie.

Bekannt wurde die 2002 gegründete pan-europäische Band der Individualisten mit eigenwilligen Eisler-Interpretationen. Auf zwei Alben transferierten Erdmann, Poulsen und Perraud 2009 und 2011 Songs des legendären Komponisten Hanns Eisler ins Jazz-Idiom. Für ihren ironischen Biss auf „Ballads & Barriades“ wurde die Band mit dem Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Auch bei ihren folgenden Studio-Produktionen, zuletzt Ende 2015 „Kind Of Red“ mit durchweg eigenen Kompositionen, ließen die meinungsfreudigen, vielfach preisgekrönten Virtuosen ihre politische Haltung durchschimmern. Natürlich beziehen sie sich dabei auch auf Traditionslinien des freien Jazz. Man denke nur an jene Musiker in den Vereinigten Staaten, die einst der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung nahe standen. Oder an die europäische Freejazz-Bewegung der späten Sechziger.

Inhaltlich erweist „Das Kapital“ nun der populären Musik seiner ersten respektive zweiten Heimat Referenz. Edward Perraud wurde in Nantes geboren, der in Wolfsburg geborene Berliner Daniel Erdmann ist schon länger überwiegend in Reims ansässig und der Däne Hasse Poulson lebt, nach Boston und Kopenhagen, seit Jahren in Paris. „Der Titel der Platte ist natürlich ironisch gemeint. Es ist doch total absurd, dass Nationalisten jetzt an vielen Orten wieder stärker werden“, sagt Daniel Erdmann. „Manche der Stücke, die wir eingespielt haben, mögen zum nationalen Kulturgut Frankreichs gehören, aber sie sind sicher kein Soundtrack zu Patriotismus.“

Ein zentrales Element der Musik von „Das Kapital“ ist Sound. Erdmanns Tenorsaxophon fesselt durch sein warmes, tiefgründiges Timbre, eine latente, eruptive Energie und pointiert angerauten Ausdruck. Perraud weiß dank klassischer Schlagwerkausbildung, wie man neben rhythmischen auch klingende Akzente setzt. Poulsen spielt filigrane, gezupfte Motive auf der akustischen Gitarre, streicht flirrende Töne mit dem Geigenbogen, entlockt der E-Gitarre harsche Riffs oder greift zur Mandoline. Das Trio kennt keine Tabus, wechselt von melodischen zu abstrakten Passagen, vereint Stilmittel unterschiedlicher Genres. Was aber am wichtigsten ist: alle hören einander zu, gehen auf Ideen der anderen ein. So entsteht eine wunderbare Transparenz und gleichzeitig seltene atmosphärische Dichte, die live (in ausgedehnteren Improvisationen) umso spektakulärer wirken kann.

» Weitere Informationen

Karten:
Musikalien Bartels, Braunschweig, Wilhelmstraße 89, Tel.: 05 31 / 12 57 12
Konzertkasse Braunschweig,
  Schloss-Arkaden & Medienhaus Braunschweiger Zeitung, Tel.: 05 31 / 1 66 06
• Online über eventim
• Abendkasse

Eintritt: Abendkasse 25 € / 22 € (ermäßigt) / 10 € (Schüler*innen & Studierende)

Mit freundlicher Unterstützung:
Kulturinstitut der Stadt Braunschweig

Bildrechte Das Kapital: Das Kapital

Nachruf auf Norbert “Bolle” Bolz

Ein letzter Blues

70jährig verstarb vorgestern die Lichtgestalt der Braunschweiger Jazzszene Norbert „Bolle“ Bolz

Die Nachricht verbreitete sich nicht nur in Jazzkreisen in Windeseile: „Bolle ist tot!“ Kaum vorstellbar: Norbert Bolz, wie er eigentlich hieß, diese Personifikation des Jazz in Braunschweig, ist nicht mehr. Dieser Urtyp, der so gar nichts von sich hermachte! Graugescheckter Bart, altersgemäß ausgedünnter Haarwuchs, fransig, aber immer noch lang hängend, scharfer Brillenblick unter kritisch gefältelter Stirn, gern kariert gehemdet, so stand er hinter der Theke. Spröde im Umgang oft, aber, war das Eis dann gebrochen – was für ein gesprächiger Mann! Und welch phänomenales Gedächtnis, was Menschen, Orte, Musik betraf!

Bolle, das ist für die meisten die Braunschweiger „Bassgeige“. Für Musiker wie Szenegänger immer noch eine Kultstätte. Seit über vierzig Jahren ist dieses Lokal „eine Topadresse des hart swingenden Jazz mit amerikanischen, europäischen und natürlich deutschen Musikern!“, wie Thomas Geese, Kenner der Szene, urteilt. Eine Kneipe urigen Eigensinns, ein Bolle-Spiegelbild, wenn man es recht besieht.

„Jazz“, sagte er im Gespräch, „der lebt nur, wenn er gespielt wird. Der lebt in Clubs! Aber – das braucht auch jemandem, der dafür brennt!“ In der Tat, für Blues und dann vor allem für den Jazz hat dieser Mann immer gebrannt. Als er, der gelernte Schriftsetzer, später sein Studium als Zapfer in der Braunschweiger Szenekneipe „Dreampipe“ finanzierte, entwickelte er seinen Traum von einer eigenen an die große Tradition der US-amerikanischen Clubs anknüpfenden Spielstätte.

Und so entwickelte er eine Art Blues-und Jazz-Netzwerk. Lockte Blueslegenden und internationale Jazzgrößen in seine „Bassgeige“, die zugleich immer auch der Brennpunkt für die regionale-, lokale- und Session-Szene war. Und obwohl der Laden auftrittstechnisch und akustisch eher wie ein Problemfall wirkte, sahen die Musiker und Fans das ganz anders. Bolle und die „Bassgeige“ gleich Kult. „Es geht nicht um Kohle, es geht um die Mucke, verstehst du?“ Das war die Leitlinie. Deshalb Raucherkneipe, sparsame Möblierung. Gab’s keine Live-Mucke, legte er selbst auf. Vinyl selbstverständlich. Mehr als 7000 Scheiben hatte er angesammelt. „Das wird alles gepflegt hier, muss alles so bleiben, wird nichts verändert!“, war seine Devise für mehr als vierzig Jahre.

Das hatte etwas, war aber völlig konträr zu neueren Club-und Musikentwicklungen. Bolle stemmte sich gegen den Zeitgeist, was viel Idealismus und vor allem viel Kraft verlangte. Und so stemmte er sich auch gegen seine schwere Erkrankung. „Ich mache hier weiter, bis ich tot umfalle!“, sagte er trotzig vor zwei Jahren im Gespräch. Mit Hilfe seiner Freunde und vor allem seiner Lebensgefährtin, Karin Schlesiger, erlebte er seinen 70. Geburtstag noch in seinem Lebensmittelpunkt, der „Bassgeige“. Welch ein Verlust ! Was aus der Kultstätte wird, ist mehr als ungewiss.

Klaus Gohlke