Im Otello-Steinbruch
Wie soll das gehen? Ot(h)ello, für viele die Oper schlechthin! Die vollkommenste Verbindung von Verdis Musik und Shakespearescher Dramatik! Neun festgelegte Stimmen, Chöre, ein ganzes Opernorchester! Und am Freitagabend im Lindenhof zu Braunschweig ganze drei Musiker; ein Kontrabass, ein Piano, ein Schlagzeuger und Elektroniker. Das ist die Besetzung von Dieter Ilgs Projekt „Otello“. Eine Eindampfung der Oper Verdis auf ihre Essenz oder eine schnöde Sparfassung?
Der Konzertbeginn war verstörend. Patrice Heral, Schlagzeuger und Loop-Spezialist, schichtete Geräusch über Geräusch. Hundeknurren vielleicht oder Gesprächsfetzen, undefinierbare Sounds, die dann von einem Marschrhythmus auf der Snaredrum überlagert wurden. Erinnerungen an Verdis „Aida“ oder Anspielungen auf die Situation der Zuhörer: Vom Straßenlärm draußen hinein in die Welt der Musik?
Wie dem auch immer sei: was folgte, war die Aufforderung „ M’ascolta“ – also: Höre mir zu. Ein filigranes Stück mit zarten Bass- und Piano-Melodien und einem Schlagzeug, das hier besser „Tupfzeug“ hieße. Lange Tonbögen, die Dieter Ilg, der herausragende deutsche Jazz-Bassist, seinem Instrument entlockte, somit nachhaltig verdeutlichend, dass der Kontrabass durchaus ein Melodieinstrument sein kann. Wer nun Sorge hatte, einem rein kammermusikalischen Jazzabend beiwohnen zu müssen, wurde schnell eines Anderen belehrt.
„Fuoco die Gioia“, das Feuer der Freude, wurde abgebrannt. Eine betörende Verdische Melodie und Akkordfolgen, die das Prinzip der Kompositionen Ilgs veranschaulichte. Aus der Vielzahl der Arien hat er die Stellen herausgesucht, deren Zusammenwirken von Harmonie und Melodie am faszinierendsten schienen. Diese unterzog er seiner musikalischen Interpretation, ohne die Essenz, den emotionalen Gehalt zu opfern. Das musikalische Material der Verdi-Oper wurde gewissermaßen als Steinbruch für die eigenen Kompositionen benutzt.
Immer, wenn man sich gerade in den Wohlklängen eingerichtet hatte, wurde in den Improvisationen dieses pure Schönsein zerstört. Pianist Rainer Böhm trieb es mehr als einmal aus seinem Klavierschemel, wenn er die ursprünglichen Melodien Zug um Zug verfremdete, sie dem Jazzidiom anverwandelte.
Daneben schuf Ilg auch so etwas wie musikalische Porträts der Protagonisten Jago und Otello. Mit einem Feuerwerk an Tönen stellte Ilg z.B. den Schurken Jago vor, immer wieder aber reflektierend-zögerliche Passagen einflechtend. Plötzlich wird die Musik entschlossener und Patrice Heral singt im Stile des Gangsta-Rap und lässt Jago am Ende an sich selbst ersticken. Otello hingegen wird zunächst mit gestrichenem Bass düster-melancholisch, vergrübelt-einsam vorgestellt. Dessen entschlossene Seite wird dann über Tempo- und Rhythmuswechsel veranschaulicht, um schließlich in einem langen Ostinato von Bass und Klavier in der Höhe zu entschwinden.
Anrührend das Stück „Ora e per sempre addio“: Jetzt und für immer Adieu: ein Stück, das Dieter Ilg seinem langjährigen Freund und Mitspieler, dem Saxofonisten Charlie Mariano, widmete, der letztes Jahr verstarb.
Dass Ilg ein Freund der schönen Melodien ist, zeigte noch einmal die Zugabe. Neidhart von Reuentals „Nun will der Lenz uns grüßen“ wurde nach allen Regeln der Kunst verjazzt, ohne dass die Hoffnung der Schlusszeile: „Nun hat uns Kinden ein End all Wintersleid“ darüber verloren gegangen wäre. Das Publikum war begeistert. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass das Konzert komplett vom TV-Team der Deutschen Welle aufgenommen wurde.
Klaus Gohlke